10. September 2023 | Präsident Recep Tayyip Erdoğan (links) empfing den indischen Premierminister Narendra Modi (rechts) in Neu-Delhi, der Hauptstadt Indiens, wo er im Rahmen des 18. G20-Gipfels der Staats- und Regierungschefs anwesend war. (Foto: TCCB / Murat Çetinmühürdar)

G20-Gipfel in Neu-Delhi: Gespräch mit Staatspräsident Erdoğan auf dem Rückflug

Am vergangenen Wochenende stand die weltweite diplomatische Agenda ganz im Zeichen des G20-Gipfels in Neu Delhi, der unter dem Motto "Eine Erde, eine Familie, eine Zukunft“ stattfand. Die Präsidenten Chinas und Russlands, Xi und Putin, nahmen nicht am Gipfel teil, und erstmals bestand die Gefahr, dass keine gemeinsame Erklärung verabschiedet wird. Für Indiens Anspruch, zur "Stimme des globalen Südens" zu avancieren, und für Premierminister Modi, der sich auf die Wahlen vorbereitet, wäre dies ein klarer Misserfolg gewesen.

Am vergangenen Wochenende stand die weltweite diplomatische Agenda ganz im Zeichen des G20-Gipfels in Neu Delhi, der unter dem Motto „Eine Erde, eine Familie, eine Zukunft“ stattfand. Die Präsidenten Chinas und Russlands, Xi und Putin, nahmen nicht am Gipfel teil, und erstmals bestand die Gefahr, dass keine gemeinsame Erklärung verabschiedet wird. Für Indiens Anspruch, zur „Stimme des globalen Südens“ zu avancieren, und für Premierminister Modi, der sich auf die Wahlen vorbereitet, wäre dies ein klarer Misserfolg gewesen.

Als Mitglied der türkischen Pressedelegation habe ich miterlebt, wie Modi den G20-Gipfel als Wahlkampfbühne zu nutzen wußte. Die Wahlplakate mit Modis Konterfei waren unübersehbar. Ganze Straßenzüge waren damit gesäumt. Der G20-Gipfel ist ein zentrales Forum der internationalen Wirtschaftskooperation. Er ist aber auch eine Bühne geopolitischer Rivalitäten. Die USA und andere westliche Staaten ließen die auf Modi zugeschnittene PR-Aktion zu, indem sie auf eine gemeinsame G20-Erklärung verzichteten, deren Wortlaut die Befindlichkeiten Russlands und Chinas gereizt hätte. Mit Indien hat der Westen einen vermeintlichen Kooperationspartner, der als Gegengewicht zu China in Stellung gebracht werden soll. In der Tat hat Indien seine Gastgeberrolle des G20-Gipfels mit Bravour gemeistert.

Die Afrikanische Union wurde als ständiges Mitglied in die G20 aufgenommen – wie zuvor schon die EU. In der gemeinsamen Erklärung wurde Russland nicht explizit für den Einmarsch in die Ukraine verurteilt. Stattdessen beschränkte man sich darauf, UN-Resolutionen zu zitieren. Hervorgehoben wurde die territoriale Integrität der Ukraine und die Kritik an der Drohung Russlands mit dem Einsatz von Atomwaffen. Die Türkei wurde für ihre Bemühungen um den Schwarzmeer-Getreidekorridor gelobt. Außerdem fordert die Erklärung die ungehinderte Lieferung von Getreide, Lebensmitteln und Düngemitteln aus Russland und der Ukraine.

Ein weiteres Thema, das beim Gipfel in New Delhi im Mittelpunkt stand, war der Wirtschaftskorridor Indien – Mittlerer Osten – Europa. Dieser Schienen-, See- und Straßenkorridor, der als Alternative zu Chinas „Belt and Road“-Projekt gesehen wird, wurde als Versuch der USA und des Westens gewertet, Peking in die Schranken zu weisen. Welches Land in welchem Umfang in den Korridor investiert, ist derweil noch unklar.

Auf dem Rückflug von Delhi machte Staatspräsident Erdoğan gegenüber Journalisten deutlich, wie Ankara zu dem neuen Projekt steht: „Aufgrund unserer geostrategischen Lage verfolgen wir die Pläne zur Entwicklungen geostrategisch relevanter Handelsrouten sehr genau. China ist bei der Umsetzung der Belt and Road Initiative (BRI) sehr gut vorangekommen. Wie Sie wissen, leisten auch wir einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung dieser Initiative. Mit anderen Worten: Alle an der BRI beteiligten Staaten sind an kritischen Projekten wie Marmaray (Unterwasser-Eisenbahn- und Autobahntunnel unter dem Bosporus) beteiligt, die einen durchgehenden Passagier- und Güterverkehr von Westeuropa nach Peking ermöglichen. Geplante regionale Handelskorridore, die eine Beteiligung der Türkei ausschliessen, wird es nicht geben. Die Türkei ist ein wichtiger überregionaler Knotenpunkt für die Produktion und den Handel. Die günstigste Verkehrsverbindung von Ost nach West kann nur durch die Türkei führen. Ein weiterer von der Türkei initiierter Handelskorridor, der gemeinsam mit den Golfstaaten (Irak, Katar, Abu Dhabi) auf den Weg gebracht werden soll, hat insbesondere die Förderung des Güterverkehrs von Europa über die Türkei in die Golfstaaten zum Ziel.

Diese Äußerungen von Präsident Erdoğan zeigen, wie Ankara sich im Wettstreit der Großmächte positioniert, der in jüngster Zeit immer stärker in den Vordergrund rückt. Dass Multipolarität eine Realität ist, erkennt die Türkei an. Ihre Kritik am gegenwärtigen internationalen System und ihr Drängen auf eine Reform der Vereinten Nationen sind Ausdruck dieser Haltung. Weder die Spannungen zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden noch die Konkurrenz zwischen den Großmächten sind im Interesse der Türkei. Die Türkei verfolgt die Stärkung ihrer eigenen strategischen Autonomie und entwickelt auf dieser Basis „modi vivendi“ der Kooperation mit Groß- und Regionalmächten, die von gegenseitigem Nutzen sind. Ein Beleg für Erdoğans diplomatische Führungsstärke ist hierbei die erfolgreiche Umsetzung des Getreidekorridors.

Erdoğan wies in seinem Interview darauf hin, dass er von vielen Staats- und Regierungschefs der G20 um eine Fortsetzung der Bemühungen um den Getreidekorridor gebeten worden sei und dass er eine Aufstockung der Getreidelieferungen an afrikanische Länder um eine Million Tonnen zugesagt habe. Erwähnenswert ist auch das bilaterale Gespräch mit dem südkoreanischen Präsidenten über den Bau eines Atomkraftwerks in der Türkei. Gleiches gilt für die Aussage von Präsident Erdoğan, die Türkei zu einem Energiehub von globaler Bedeutung zu entwickeln.

Seine Äußerungen über das Treffen mit dem ägyptischen Präsidenten Sisi waren hingegen darauf ausgerichtet, den Normalisierungsprozess zwischen Ankara und Kairo zu einer umfassenden Zusammenarbeit auszubauen. Dazu gehörten die Verdoppelung des Handels, die Wiederbelebung des hochrangigen Strategischen Kooperationsrates und die Zusammenarbeit in regionalen Fragen. Der Normalisierungsprozess, der in eine strategische Partnerschaft mit den VAE und Saudi-Arabien mündet, könnte auch als eine Blaupause für das Verhältnis zu Kairo Verwendung finden. Angesichts der Tatsache, dass sich die Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Welt immer schneller vollzieht, bin ich der Meinung, dass Kairo bei der Normalisierung der türkisch-ägyptischen Beziehungen im eigenen Interesse rasch handeln muss.

[Sabah, 12. September 2023]

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