Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (M), der Vorsitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) Devlet Bahceli (3. R), der türkische Parlamentssprecher Mustafa Sentop (3. L), der Vorsitzende der Neuen Wohlfahrtspartei (YRP) Fatih Erbakan (R), der Vorsitzende der Partei der Großen Einheit (BBP) Mustafa Destici, der Vorsitzende der Demokratischen Linkspartei (DSP) Onder Aksakal und der Vorsitzende der Partei der Freien Sache (HÜDA PAR) Zekeriya Yapicioglu nehmen am 10. April 2023 an der TCG ANADOLU-Schiffsübergabezeremonie und der Stahlschneidezeremonie der neuen MİLGEM-Fregatten auf der Sedef-Werft im Bezirk Tuzla in der Türkei, Istanbul, teil. (Foto-Credit: Murat Kula / Anadolu Agency)

Die kritische Schwelle: Wahlen am 14. Mai

Die große Frage der Wahlen am 14. Mai wird sein, wer die Türkei ins nächste Jahrhundert trägt. Erdoğan oder Kılıçdaroğlu? Das zu erwartende Tempo des Wahlkampfes weist auf die Brisanz der türkischen Politik hin. In dem mit weitreichenden Begriffen wie „Systemwandel“ und „Wiederaufbau“ geführten Wahlkampf, wissen die WählerInnen um die enorme Bedeutung dieser Wahlen und der wegweisenden Position der Kandidaten. Und die entscheidende Instanz ist einzig die Wahlurne.

Falls Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die Wahl gewinnt, geben seine bisherige, 20-jährige Amtszeit und seine Leistungen einen Ausblick auf die zu erwartende Politik für die kommenden fünf Jahre. Wie Kemal Kılıçdaroğlu, im Falle eines Wahlsieges, das Land regieren wird, ist jedoch trotz der Publikationen des „Sechser Tisches“ weiterhin ungewiss. Der wesentlichste Grund hierfür ist Kılıçdaroğlus Angebot von einem Regierungsmodell mit mindestens sieben Präsidialen Stellvertreterposten für seine Koalitionspartner. Dies sorgt bei den WählerInnen für Verwirrungen.

Mit der Unterschrift des Dekrets für die Vorverlegung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf den 14. Mai hat Präsident Erdoğan am 10. März dieses Jahres den Startschuss für die wohl wichtigsten Wahlen unseres Landes in seiner jüngsten Geschichte eingeleitet. Möge es unserem Land Frieden und Stabilität bringen. Gerade in einer Phase, in der noch die Wunden der Jahrhundertkatastrophe versorgt werden, wirkt die verbliebene Zeit für die Wahlen wie die Zielgerade eines Marathon-Laufes. Seit den Kommunalwahlen 2019 hat die Opposition stets auf die Vorverlegung der Wahlen gedrängt. In den letzten 13 Monaten haben wir uns dann mit dem „Sechser Tisch“ und seinem eventuellen Kandidaten befasst. Auch wenn nun vier Kandidaten am 14. Mai um die Gunst der WählerInnen kämpfen, wissen wir, dass die Wahl zwischen den zwei stärksten Kandidaten Erdoğan und Kılıçdaroğlu entschieden wird. Doch wer wird wohl den Stimmanteil von 50 % plus 1 erreichen? Trotz der Ankündigungen der Kandidaten, ihre Kampagnen ohne Feierlichkeiten und musikalische Einlagen zu führen, bin ich ziemlich sicher, dass die verbleibende Phase des Wahlkampfes, der bisher von Überraschungen und Polemik geprägt war, ein hohes Tempo aufweisen wird.

An Selbstbewusstsein mangelt es der Opposition nicht, die Meral Akşener, Vorsitzende der İYİ Partei, rügend an den Tisch zurückgezwungen hat, nachdem sie den „Sechser Tisch“ kurzzeitig verlassen hatte. Die Wahlpropaganda-Maschinerien, die Kılıçdaroğlu als Sieger prognostizieren, überbieten sich gegenseitig. Mit der Entscheidung der HDP keinen eigenen Kandidaten zu nominieren, sondern Kılıçdaroğlu zu unterstützen, wurden die CHP-Eliten psychologisch gänzlich eingeschworen. Im Bann dieser psychologisch vermeintlichen Überlegenheit nehmen die Aussagen der kleinen Parteien des „Sechser Tisches“, die ihrer eigenen Historie und Gründungsziele völlig widersprechen, bereits irrsinnige Dimensionen an. Nachdem nun die Kandidaten der „Volksallianz“ (Cumhur İttifakı) und der „Allianz der Nation“ (Millet İttifakı) bestimmt sind, werden die Parteien zügig ins Feld ziehen und die Solidarität ihrer WahlerInnen stärken. Das Schicksal dieser Wahlen wird sicherlich davon abhängen, welche Allianz die Solidarität ihrer WählerInnen am wirkungsvollsten festigen kann. Entgegen der Prognosen der Wahlforschungsinstitute ist der Sieger der Wahlen nicht absehbar.

Die „Volksallianz“ tritt gegen ihren Wunschgegner Kılıçdaroğlu an. Kılıçdaroğlu wusste Akşener, die gegen seine Kandidatur war, völlig ramponiert an den Tisch zurück zu zwingen. Das hat zu einer erheblichen Erosion der İYİ Partei geführt, die bei den Wahlen, den größten Verlust aller Parteien erleiden könnte. Obwohl die türkische Öffentlichkeit die Erklärungen der CHP und der HDP-Führung wahrnimmt, werden die Debatten, mit welchen offenen oder heimlichen Verhandlungen und Zugeständnissen Kılıçdaroğlu eine Einigung mit der HDP erzielen konnte, bis zu den Wahlen andauern. Auch wird man sich wohl an die Warnung von Akşener und ihren Freunden, Kılıçdaroğlu nicht zu nominieren, ständig erinnern. Die größte Herausforderung Kılıçdaroğlus in der Wahlkampagne wird der Vertrauensaufbau bei den WählerInnen sein, zumal er eigene Prinzipien mehrfach ignoriert hat. So hatte er deutlich gefordert, dass Parteivorsitzende nicht kandidieren sollten, hat dann jedoch Akşener aus dem Rennen gedrängt, um selber doch zu kandidieren. Weiter hatte er mit Nachdruck verlangt, dass der Präsident keiner Partei angehören sollte – er selbst möchte jedoch bei einem Wahlsieg bis zum Übergang ins parlamentarische System Vorsitzender der CHP bleiben.

Die große Frage der Wahlen am 14. Mai wird sein, wer die Türkei ins nächste Jahrhundert trägt. Erdoğan oder Kılıçdaroğlu? Das zu erwartende Tempo des Wahlkampfes weist auf die Brisanz der türkischen Politik hin. In dem mit weitreichenden Begriffen wie „Systemwandel“ und „Wiederaufbau“ geführten Wahlkampf, wissen die WählerInnen um die enorme Bedeutung dieser Wahlen und der wegweisenden Position der Kandidaten. Und die entscheidende Instanz ist einzig die Wahlurne.

Wer sagt: „Falls die Volksallianz gewinnt, wird unser Land wie Nordkorea“ oder „Der türkische Frühling kommt“ speit lediglich seine Wut heraus und lebt fern der Realität in der Türkei. Wer die WählerInnen mit Autorität einschüchtern will, versucht die Stimmen einzudämmen, die fragen: „Was habt ihr am Tisch des CHP-Vorsitzenden zu suchen“. Die bevorstehende Wahl wird uns drängen, sämtliche Facetten und Entwicklungen unserer neuesten Geschichte zu reflektieren und zu evaluieren.

Allianz der Nation

 Die „Allianz der Nation“ hat ein Bündnis mit der HDP errichtet. Die Krise von der Rückkehr der İYİ Partei an den „Sechser Tisch“ dauert in der Parteibasis weiter an und die Verantwortlichen versuchen einem Abgang ihrer WählerInnen zur Memleket Partei entgegenzuwirken. Die anderen rechts-konservativen Parteien an dem von der CHP geführten „Sechser Tisch“ sind damit beschäftigt, möglichst viele Listenplätze für ihre Abgeordneten in der CHP unterzubringen. Dieser Umstand ist derzeit für den Block der Kılıçdaroğlu-Unterstützer und für die linken Parteien CHP und HDP bestimmend geworden. Die lauten Töne und Drohungen von der TİP, die ehemaligen Mitglieder der AK Partei am „Sechser Tisch“ juristisch zu belangen, ist ein Hinweis hierfür. Die Funktion und Rolle der Saadet, DEVA und Gelecek Parteien der CHP und Kılıçdaroğlu zur Regierungsmacht zu verhelfen, wird zunehmend von kontroversen Diskussionen begleitet. Die Wahrnehmung, dass diese konservativen Parteien, entgegen ihres Wesens bei der aktuellen „Geschichtsschreibung“ auf der falschen Seite stehen, nimmt in der Öffentlichkeit zu.

Die Allianz der Nation formiert ihre geeinten Kräfte als „Sechser Tisch“ und der HDP um einen Block der Opposition gegen Präsident Erdoğan. Gegensätzliche ideologische Kreise haben sich zur Teilhaberschaft der Regierung und dem Wechsel zur gestärkten, parlamentarischen Demokratie zusammengefunden. Auf der einen Seite ist die HDP, die prophezeit, die „100-jährige Republik zu reformieren“. Auf der anderen Seite ist der momentan stille, aber in Erwartung der Machtübernahme lauernde Vertreter eines autoritären Laizismus, die CHP. Nach der letzten Krise hat die İYİ Partei sowohl an Macht am Tisch als auch an der Basis bei ihrer Wählerschaft deutliche Einbußen hinnehmen müssen. Die übrigen rechts-konservativen Parteien am „Sechser Tisch“ nehmen lediglich eine Drittstellung ein. In ihrem Wesenskern ist der „Sechser Tisch“ eigentlich eine „Übergangskoalition“. Auch ist ihr Vermögen als Koalition noch unbewährt. Vielmehr haben uns die 1960’er, 70’er und insbesondere die 90’er Jahre offenbart, welch Instabilität und Krisenreichtum Koalitionen für unser Land bedeuten.

Die „Übergangskoalition“ der „Allianz der Nation“ dient allein der CHP und der HDP. Bei einem Wahlsieg wird Kılıçdaroğlu zum Präsidenten und erlangt die Macht, um bei der erstbesten Krise die anderen auszuschließen. Falls er die Präsidentschaftswahl verliert, wird er die Wählerstimmen seiner Partei dennoch vermehren. Die HDP wiederum kann ihre radikale Politik noch weitreichender ausgestalten und expandieren. Falls das Bündnis aus sieben Parteien versuchen sollte, das Land zu regieren, werden die gegensätzlichen Ideologien zwangsläufig zur Aufteilung der Staatsorgane in Fürstentümer führen. Die Bürokratie wird aufgrund der parteipolitischen Besetzungen unabwendbar in gegensätzliche, zerstreute Lager formiert. Wir können die Zahl der erforderlichen Versammlungen zur Koordination nicht mal erahnen.

Die Gestaltung der Wahlzettel obliegt dem Hohen Wahlausschuss (YSK). Für die Bestimmung der Positionen der Kandidaten zur Präsidentschaftswahl und den Abgeordnetenwahlen der 28. Wahlperiode auf den Wahlzetteln, wurde eine Auslosung durchgeführt. Demnach wird Erdoğan auf dem Wahlzettel für die Präsidentschaftswahl an erster Stelle, Muharrem İnce an zweiter, Kılıçdaroğlu an dritter Reihe und Sinan Oğan an vierter Stelle stehen.

Die Stellung der HDP

Eine der wichtigsten Ereignisse auf dem Weg zu den Wahlen am 14. Mai ist, dass Kılıçdaroğlu die HDP mit Verhandlungen und Zugeständnissen zu potenziellen Regierungsmitwirkenden gemacht hat. Kılıçdaroğlu hat eine radikale Partei mit radikalen Interessen wie die HDP, die sich nicht vom PKK-Terror distanziert, ins Zentrum der Politik gerückt. Ich bin der Ansicht, dass diese Tatsache das wichtigste Ereignis auf dem Weg zu den Wahlen ist. Es gibt gewissermaßen auch ersichtliche Aspekte der Verhandlungen von Kılıçdaroğlu mit der HDP, wie beispielsweise die Stärkung kommunaler Verwaltungsapparate oder Ähnliches. Die geheime und intransparente Seite der Verhandlungen bleibt jedoch eine einzige Ungewissheit. Die Absprachen und Zugeständnisse für die Zeit nach den Wahlen sollten von der CHP und der HDP, die sich bei der Forderung „Aufbau einer neuen Türkei“ einig sind, offengelegt werden.

Welche gemeinsame Vorstellung einer „neuen Türkei“ haben diese Parteien in ihrer Kooperation? Die genauen Inhalte werden bewusst zurückgehalten, um die nationalistischen Wähler nicht abzuschrecken.

Der von Kılıçdaroğlu gegründete politische Block ist meiner Meinung nach nunmehr hauptsächlich unter der Leitung einer CHP–HDP Kooperation. Die HDP bedarf dabei keiner Stellvertreterposten des Präsidenten oder Ministerien. In Abgrenzung zu den anderen konservativen oder nationalistischen Parteien wird die HDP in allen wichtigen, kritischen Fragen zur Zukunft der Türkei, eine gravierendere Rolle spielen. Auch im „Abkommen zur Einigung über gemeinsame politische Ziele“ des „Sechser Tisches“, in dem Kılıçdaroğlu als Präsidentschaftskandidat deklariert wird, ist die Bedeutung und das Gewicht der HDP offen zu bemerken. Die İYİ Partei, die den Tisch verließ und nach einer Lynchjustiz zurückkehren musste, hat sich noch nicht gesammelt. Die HDP jedoch hat dem „Sechser Tisch“ klammheimlich und gekonnt ihre Politik aufgedrängt und ihren Kandidaten bestimmt.

Erdoğan und die AK Partei

 In Anlehnung an die von der AK Partei beauftragten Umfragen hat der stellvertretende Vorsitzende der AK Partei, Mustafa Şen, erklärt, dass die Umfragewerte für Erdoğan bei über 53% liegen. Diese Aussage hat in den Reihen der Volksallianz die Überzeugung von einem Wahlsieg Erdoğans gefestigt. Die weit verbreitete Empfindung der WählerInnen, „Wenn es jemand schafft, dann er“, ist ein signifikanter Hinweis für einen Wahlsieg für den letztmalig kandidierenden Erdoğan.

Erdoğans 20-jährige Amtszeit und seine Leistungen geben einen Ausblick auf die zu erwartende Politik der kommenden fünf Jahre. Wie Kılıçdaroğlu bei einem eventuellen Wahlsieg regieren wird, bleibt jedoch trotz der Verkündungen des Sechser Tisches weiterhin ungewiss. Wie erwähnt, ist hierfür Kılıçdaroğlus Angebot von einem Regierungsmodell mit mindestens sieben Präsidialen Stellvertreterposten für seine Koalitionspartner ausschlaggebend. Dieses unerprobte und wagemutige System mit „vervielfältigten, präsidialen Stellvertreterposten“ weckt bei den WählerInnen berechtigte Bedenken im Hinblick auf die Umsetzbarkeit. Es ist demnach zu erwarten, dass die Vorsitzenden der kleineren Parteien bei der ersten, ernstzunehmenden Regierungskrise direkt oder unmittelbar in eine wirkungslose Position verfallen werden.

Ein weiterer Aspekt ist der übermäßige Gebrauch der Meinungsforschungsinstitute durch die Allianz der Nation für ihre Propaganda. Die stille, abwartende Haltung der WählerInnen der AK Partei und Erdoğans sollte die Anhänger Kılıçdaroğlus nicht täuschen. Bei den vergangenen Wahlen haben wir gesehen, dass ein Großteil der unentschiedenen und bei Umfragen teilnahmslosen WählerInnen an der Urne für Erdoğan gestimmt hat. Die Meinungsforschungsinstitute, die auch 2018 die CHP und ihren Kandidaten Monate vor den Wahlen in Führung sahen, machen derzeit das Gleiche. Diese Herangehensweise fordert psychologisch die WählerInnen der CHP und nicht die AK Partei Anhänger.

Ich wiederhole mich an dieser Stelle und betone, dass die bevorstehenden Wahlen für beide Allianzen eine harte Konkurrenz darstellen. So kurz vor den Wahlen wird für den Sieg nun entscheidend sein, wer die WählerInnen mobilisieren und einen kann.

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