Wahlplakate zum Bundestagswahlkampf 2021 (DPA)

Deutschland und die deutsch-türkischen Beziehungen nach der Ära Merkel

Deutschland steht vor einer neuen Ära. Je nachdem, ob die Union oder SPD die Federführung zukommt, wird in Deutschland eine neue politische Ordnung geschaffen und werden auch die türkisch-deutschen Beziehungen entsprechend neu gestaltet.

Die anstehende Bundestagswahl am 26. September 2021 wird die 16-jährige Amtszeit von Angela Merkel beenden. Schon vor der Post-Merkel-Ära ist Thema, welche Regierung in Deutschland gebildet wird und welche Politik die neue Regierung in Bezug auf die bilateralen Beziehungen zur Türkei verfolgen wird. Die neue Sitzverteilung im Bundestag und die Herangehensweise der neuen Regierung in Bezug auf die türkisch-deutschen Beziehungen lassen sich aktuell nur schwer abschätzen. Daher ist es folgerichtig, alternative Szenarien zu den beiden genannten Themen in Bezug auf die Post-Merkel-Ära in Betracht zu ziehen, um fundierte Aussagen machen zu können. Aus diesem Grund ist es zunächst notwendig, sich die aktuellen Umfrageergebnisse genauer anzuschauen.

Was sagen die Umfragen?

Nach den jüngsten Umfragen vom 9. September 2021 zu den Bundestagswahlen am 26. September 2021 käme die Mitte-Links-Partei SPD auf 25 % und die konservative CDU/CSU auf knapp 20 % der Stimmen. Tatsächlich lagen CDU/CSU bei der Veröffentlichung der ersten Wahlumfragen in diesem Jahr mit rund 30 % an der Spitze. Aufgrund der Unzulänglichkeiten der Regierung bei der Bewältigung der Folgen der großen Flutkatastrophe im Land haben CDU/CSU in den Umfragen kontinuierlich an Zuspruch verloren. Neben diesen Parteien der Mitte werden die Grünen, die mit ihrer Spitzenkandidatin Baerbock zur bürgerlichen Partei geworden sind, voraussichtlich 17 % der Stimmen erhalten, die liberale FDP 12 %, die rechtsextreme AfD 11 % und die radikale Linkspartei 6 %. Die als politischer Paria geltende AfD wird dabei aller Voraussicht nach nicht in irgendwelche Koalitionsverhandlungen eingebunden werden.

Weiterhin untermauern die Umfrageergebnisse, dass mindestens einer der aktuellen Koalitionspartner an der neuen Regierung beteiligt sein wird. Eine erneute große Koalition zwischen diesen beiden Parteien nach dem 26. September scheint ausgeschlossen. Dass sie nicht für eine neuerliche Koalition bereitstehe, kündigte die SPD bereits an, da eine Neuauflage der Koalition mit der CDU/CSU Unbehagen in der eigenen Basis auslöse. Zudem dürften laut Umfrageergebnissen Grüne und FDP die Schlüsselparteien dieser Wahl sein.

Koalitionsszenarien

Ein Szenario das sich aus den Umfrageergebnissen ergibt, ist eine „Ampelkoalition“, bestehend aus SPD, Grünen und FDP. Tatsächlich gibt es keine ernsthaften Hindernisse für eine Regierungsbildung dieser drei Parteien, die insgesamt auf über 50 % kommen würden. Dieses Szenario, das unter Führung des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz eintreten könnte, würde den Grünen und der FDP nach langer Zeit eine Regierungsbeteiligung ermöglichen. Aus Sicht der Türkei wäre diese Konstellation akzeptabel. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die Grünen gegenüber der Terrororganisation PKK eine wohlwollende Haltung einnehmen und dass FDP-Chef gegenüber dem türkischen Präsidenten Erdoğan eine ablehnende Haltung einnimmt. Deshalb könnten aus einer Regierungskonstellation aus diesen drei Parteien hinsichtlich der bilateralen Beziehungen zur Türkei Probleme und Spannungen entstehen, welche die SPD dann ausbalancieren könnte.

Ein mögliches zweites Szenario ist, dass zwischen CDU/CSU, Grünen und FDP eine sogenannte „Jamaika-Koalition“ gebildet wird, die den Kandidaten der Unionsparteien, Armin Laschet, zum Bundeskanzler machen würde. Da es der Wunsch der CDU/CSU ist, weiter zu regieren und da hier noch zwei Parteien hinzukämen, die ebenfalls gerne regieren würden, ist eine solche Regierungskonstellation durchaus möglich. In der aktuellen Situation bietet sich für die CDU/CSU an, eine Koalition mit den Grünen und der FDP einzugehen, zumal sie, um an der Macht zu bleiben, gezwungen ist, eine solche Koalition einzugehen. Von Armin Laschet, seit 2017 Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, weiß man, dass er gegenüber seinen türkischstämmigen Mitbürgern im Land positiv eingestimmt ist. Auch deshalb genießt er die Sympathie dieser Bevölkerungsgruppe und wird in der deutschen Presselandschaft von Zeit zu Zeit als „Türkischer Armin“ bezeichnet. An dieser Stelle sollte unterstrichen werden, dass Laschet in einem seiner Fernsehauftritte deutlich machte, dass die PKK eine Terrororganisation sei, die nicht unterstützt werden dürfe. Letztlich erscheint eine solche Regierungsbeteiligung der CDU/CSU unter Führung von Laschet für die Türkei als ein durchaus vorteilhaftes Szenario.

Als drittes und letztes Szenario wurde in den letzten Tagen über eine Minderheitsregierung zwischen SPD, Grünen und Linkspartei diskutiert. Doch aufgrund der radikalen politischen Linie der Linkspartei scheinen vor allem die Grünen von einem solchen Koalitionsszenario wenig begeistert. Dementsprechend scheint diese Konstellation nicht realisierbar zu sein. Der Türkei käme eine solche Koalition gar nicht gelegen, da Funktionäre der Linkspartei, darunter Sevim Dağdelen, offen die PKK unterstützen und Hass gegen die derzeitig von Erdoğan geführte Regierung schüren.

Unabhängig davon, wie die Konstellation einer neuen Regierung aussehen könnte, sollte man nicht davon ausgehen, dass ein gänzlich neues Kapitel in den türkisch-deutschen Beziehungen aufgeschlagen wird. Im Sinne des Kontinuitätsprinzips in zwischenstaatlichen Beziehungen werden die intensiven Aktivitäten der PKK und FETÖ in Deutschland auch weiterhin zu den Hauptherausforderungen der bilateralen Beziehungen zählen. Andererseits werden beide Staaten angesichts dessen, dass Deutschland der wichtigste Handelspartner der Türkei ist und deutsche Unternehmen einen wichtigen Platz unter den ausländischen Investitionen in der Türkei einnehmen, ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit zwingend fortsetzen müssen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass das türkisch-deutsche Handelsvolumen mit einer Novellierung der Zollunion von derzeit rund 35 Milliarden Euro das Potenzial in sich birgt, in kurzer Zeit auf über 50 Milliarden steigen.

[TRT Deutsch 13. September 2021]

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